Seniorenbetreuung ohne Geländer

Unser Haus

Seniorenbetreuung ohne Geländer

Gut ist, was lange währt: In lieber Erinnerung an unsere beiden HeimbewohnerInnen Maria und Anna laden wir zur Lektüre dieses immer noch gültigen Artikels ein!

 

 

Anna und Maria sind Schwestern: Maria ist 105 Jahre, Anna 94 Jahre alt. Maria (rechts im Bild), die ehemalige Köchin eines Großbauernhofes, geht täglich zum Kaffee trinken ins Dorf. Der gemütliche Plausch im Dorfgasthaus ist ein Fixtermin für sie, dem sie bei Wind und Wetter nachgeht – und der Wind pfeift häufig durch die Straßen und Gassen von Latsch. Wenn sie heimkommt, kontrolliert sie die Tätigkeiten ihrer Schwester Anna im Haushalt. Die beiden teilen sich eine 2-Zimmer-Wohnung im Zentrum von Latsch. Mal ist eine Pfanne nicht am richtigen Ort oder der Radio läuft, obwohl Anna sich schon längst für ihr Nachmittagsschläfchen zurückgezogen hat.

Die beiden sind selten allein: Oft kommen die Urenkeln, Großneffen oder Töchter zu

Besuch. Einmal die Woche kommt der Bruder zum Kartenspielen. Seit Herbst werden sie von einer Haushaltshilfe unterstützt und Annas Tochter macht den Einkauf: Ansonsten versorgen sich die Beiden allein. Sie teilen sich eine Wohnung des Alten- und Pflegeheims Latsch. Und obwohl sie in der Gestaltung ihres Tagesablaufes frei sind, kehren sie fast täglich im Haupthaus ein: um sich mit Freunden und Bekannten zu Treffen oder um an einem der Angebote teilzunehmen.

Selbstständig zu bleiben, soweit es geht, ist den beiden Damen ein großes Anliegen.

Im Oktober 2016 wurde Maria 107 Jahre alt und ist seitdem die älteste Südtirolerin. Auf ihren eigenen Wunsch hin ist sie am Tag nach ihrem Geburtstag in das Seniorenwohnheim Annenberg umgezogen. Dort wohnte sie wieder gemeinsam mit ihrer Schwester, bis Maria Rechenmacher im Dezember 2018 im Annenbergheim im Kreise ihrer Familie verstarb.

Selbstbestimmtes Leben im Alter

Seit einigen Jahren wird im Alten- und Pflegeheim Latsch das Prinzip des „Selbstbestimmten Lebens“ angewandt. Selbstbestimmt Leben im Alter fördert Begegnung auf Augenhöhe und ermöglicht die Erhaltung der eigenen Entscheidungsfreiheit. Pflegebedürftige Menschen wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Angehörige, Ärzte, sowie die Direktorin und der Verwaltungsrat gehen einen gemeinsamen Weg.

Einen wesentlichen Beitrag zur Umsetzung der Pflege- und Betreuungsleitlinie leistet der ausgearbeitete Betreuungskreislauf. Dieser stellt die Bedürfnisse des Einzelnen in den Mittelpunkt und besteht aus verschiedenen Dienstleistungen.

Sie können im Baukastensystem, je nach Bedarf der pflegebedürftigen Senioren und Seniorinnen, beansprucht werden. „Es ist unser Ziel, die Selbständigkeit so lange als möglich zu erhalten und selbstbestimmte Entscheidungen in der Pflege und Betreuung, sowie in der Tagesgestaltung zu fördern.“  so die Direktorin Iris Cagalli. „Durch die verschiedenen Dienstleistungen, die untereinander kombiniert werden können, sollen Hemmschwellen abgebaut, Vertrauen geknüpft und Schuldgefühle gelindert werden. Die Entscheidungsfreiheit gibt die Möglichkeit den Moment des Umzugs in das Seniorenwohnheim unvoreingenommener zu  wählen. Weiters wird ein längerer Aufenthalt Daheim ermöglicht, Überforderung in der Pflege seitens der Angehörigen kann besser vorgebeugt werden.“

Früher und heute – Veränderungen in der Altenarbeit

„Noch vor 20 Jahren wurde das damalige Altersheim als Vorhof zum Friedhof gesehen.“ so ein Gesprächspartner, dessen Großeltern in den 80ern, im hohen Alter, schwer erkrankten. „Unsere pflegebedürftigen Angehörigen kamen in ein Heim und verstarben dort in unseren Augen einsam.“ Seit den 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich die stationäre Altenarbeit von der Verwahranstalt, über die krankenhausartige Patientenversorgung, hin zum Wohnheim mit Aktivierung verändert, um letztendlich Ende der 90er dem Leitbild der „Familie“ zu folgen, also dem Ort, an dem Normalität und Geborgenheit erlebt werden. Wie wird dies im Alten- und Pflegeheim Latsch ermöglicht?

Aus der Tagesgestaltung Energie schöpfen

Begegnung auf Augenhöhe

Den eigenen Lebensalltag aktiv gestalten, bedeutet nicht nur alltägliche Verrichtungen nicht als Bürde zu erleben, sondern auch durch selbstbestimmte Teilnahme und gleichberechtigte Mitsprache in der Tagesgestaltung Energie zu schöpfen. Die gute Seele des Hauses ist Paula Plank. Seit 1995 ist sie am Alten- und Pflegeheim Latsch tätig und koordiniert die Tagesgestaltung, sowie die Freiwilligenarbeit. 180 Freiwillige Helferinnen und Helfer unterstützen sie bei der Umsetzung. Das Tagesangebot wird von den Heimbewohner und den Tagesgästen gerne und häufig genutzt.

Lebensqualität beginnt im Kleinen

Sie hat die Umstellung zum „Selbstbestimmten Leben“ also aus erster Hand miterlebt. Für sie ist diese Ausrichtung zu einem wesentlichen Faktor im Umgang mit den Menschen geworden. Nicht die Leitung oder die Betreuer entscheiden über die Köpfe der anderen hinweg, sondern die Bewohner entscheiden – im Rahmen der gesundheitlichen und organisatorischen Möglichkeiten – selbst. „Man vergisst häufig, dass Lebensqualität bei Kleinigkeiten anfängt. Bei der Faschingsfeier verteilen wir nicht einfach jedem eine Hälfte vom Faschingskrapfen, sondern jeder kann selbst nehmen, worauf er Lust hat und wieviel er mag“.

Meinungsaustausch macht die Nachricht gleich interessanter

Man merkt Frau Plank an, dass sie vom Konzept überzeugt ist. Die Heimbewohner schätzen besonders den Respekt, der ihnen entgegengebracht wird. Sie möchten nicht bevormundet werden, sondern mit einbezogen werden. Es gibt auch Bewohner, die mit der Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit überfordert sind. Dies kann die Folge von verschiedenen Krankheitsbildern sein oder durch eine falsche Unterstützung hervorgerufen worden sein.

Herausforderung im Heimalltag

Achtsamkeit

Die Betreuer hinterfragen ihr Tun und Handeln immer wieder, müssen genauer beobachten und flexibel reagieren. “Dadurch fallen wir aber auch nicht in eine Routine, was in der Pflege und Betreuung sehr häufig der Fall ist. Wir müssen den Bewohnern die Zeit geben, um selbst Entscheidungen zu treffen Wenn der Bewohner beispielsweise für sich entscheidet, was er anzieht, dann dauert das natürlich länger. Dieser Mehraufwand an Zeit lohnt sich aber, wenn ich dann einen zufriedenen Menschen in den Tag begleiten kann.”. Die Autonomieprozesse der Heimbewohner gilt es nicht nur zu erkennen, sondern auch zu unterstützen. Falls man dies nicht schafft, fühlen sich die Bewohner sehr bald machtlos und verlernen es, für sich Entscheidungen zu treffen. “Wir Betreuer müssen uns noch mehr zurücknehmen und weniger eingreifen.”

160 Freiwillige helfen mit

Luft zum Atmen

Das ganze Konzept fußt auch auf der Mitarbeit der zahlreichen freiwilligen Helferinnen und Helfer. Ob ein Spaziergang am Nachmittag, ein gemütlicher “Karter” oder der Besuch der Musikkapelle werten viele große und kleine Einsätze das Programm ab. Frau Plank erzählt, dass die Freiwilligen das Konzept als Wertschätzung und Achtung vor dem sehr alten Menschen erleben. “Die Freiwilligen sind sehr motiviert, sie wollen ihre Sichtweise erweitern und dazu lernen und sind daher froh, Anregungen und Tipps im Umgang mit den Menschen zu bekommen.” Dabei profitieren nicht nur die Heimbewohner: Sie hat oft erlebt, wie sinnstiftend und beglückend die ehrenamtlichen Helfer ihr Tun erleben und ihre Tätigkeit als große Bereicherung ansehen.

Im gesamten Haus herrscht die Bereitschaft alte Betreuungsmuster zu hinterfragen und neue, menschengerechte und respektvolle Wege zu suchen. Altenbetreuung ohne Geländer – im Alten- und Pflegeheim Latsch nicht nur gelebter Alltag, sondern eine tägliche Herausforderung, der sich alle gemeinsam stellen.

Präsident überzeugt vom Selbstbestimmten Leben

Alexander Janser, der Präsident des Alten- und Pflegeheims Latsch, ist in seiner Freizeit häufig als Ehrenamtlicher tätig. In der Bürgerkapelle Latsch spielt er seit vielen Jahren Trompete – er weiß gar nicht mehr genau, wann er angefangen hat. Im Gespräch erzählte er, dass er mit der Bürgerkapelle bei besonderen Anlässen oft im Altenheim gespielt hat und dass er gerne dorthin gegangen ist. Janser, seit einem Jahr im Amt, ist überzeugt, dass die Direktorin mit dem “Selbstbestimmten Leben” den richtigen Weg eingeschlagen hat. Zumal man sich deutlich im vorgegebenen Budget bewegt. Die Kostenfrage spielt gerade im Sozialbereich eine wichtige Rolle. Eine Vielzahl von Herausforderungen kommen auf die Gesellschaft zu: Die Menschen werden älter. Demenzkranke und Langzeitpflegefälle steigen an. Auf die Frage, wie man in Zukunft auf die steigenden Kosten im Sozialbereich reagieren soll, antwortet er konsequenterweise: „Wenn es den Menschen gut tut, sind die anfallenden Kosten gerechtfertigt."

Interview mit Martin Telser zu „Selbstbestimmt Leben im Alter“:

Martin Telser ist der Präsident des Dachverbandes für Soziales und Gesundheit. Bis 2017 leitet er die Geschickte des größten Sozialverbandes in Südtirol. Zuvor hat der die Sozialgenossenschaft Independet L. geleitet, deren Mitbegründer er war und sitzt nun auch der Arbeitsgemeinschaft für Behinderte vor. Telser, der seit einem Autounfall vor 25 Jahren im Rollstuhl sitzt, hat in Südtirol zahlreiche Neuerungen im Umgang mit behinderten Menschen auf den Weg gebracht, so z.B. bei der Schaffung des Behindertengesetzes. Das Prinzip des „selbstbestimmten Lebens“ kennt er aus diesem Bereich und hat die Führungsspitze des Altenheimes Latsch in der Entwicklung und Umsetzung unterstützt.

Wie ist die Idee entstanden, im Seniorenwohnheim Latsch „Selbstbestimmtes Leben“ umzusetzen?

Martin Telser: Die treibende Kraft hinter der Idee war die Direktorin des Altenheimes, Iris Cagalli. In zahlreichen Gesprächen haben wir gemeinsam versucht das Konzept des „Selbstbestimmten Lebens“, das wir in Südtirol in erster Linie aus der Behindertenbetreuung kennen, auch für ein Altersheim – im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten – umzusetzen.  Die Frage der Fremd- oder Selbstbestimmung spielt in der Altenbetreuung und in der Pflege eine zentrale Rolle.

Wie ist die Umsetzung des Projektes gelungen?

Martin Telser: In meinen Augen ist die Umsetzung gut gelungen. Wir haben leider keine Vergleichswerte, da das Seniorenheim Latsch das einzige in ganz Südtirol ist, das das „Selbstbestimmte Leben“ aus Leitlinie hat. Auch die anderen Häuser stellen dem  Menschen in den Mittelpunkt, aber sicher nicht auf der Grundlage dieses Prinzips. Die Umsetzung wurde sehr professionell gemacht mit entsprechenden Leitlinien bis hin zur Teamschulung und Einzelgesprächen.

Was waren für Sie die größten Schwierigkeiten in der Verwirklichung?

M.T.: Wenn man eine Philosophie oder einen Gedanken entsprechend umsetzten möchte, muss man zuerst die Menschen davon überzeugen. Da ist es eine Frage, wie weit man die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf dieser Reise mitnehmen kann und schult.

Und was war der größte Erfolg?

M.T.: In meinen Augen ist der größte Erfolg, dass man verstanden hat, dass Altenheim nichts anderes ist als ein weiterer Schritt in einem Leben. Man muss versuchen die Person so weit als möglich selbstständig noch Entscheidungen treffen zu lassen. Man muss aus dem strukturellen Denken herauskommen. Nicht unbedingt die Vorgaben des Altenheimes sind das Wichtigste, sondern effektiv die Bedürfnisse der Heimbewohner.

Danke für das Gespräch!

Text:                Marion Thöni und Iris Cagalli

Interviews:       Marion Thöni

Bildnachweis:    Alten- und Pflegeheim Latsch

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